Forschungsprojekt

Sicherheit als Siebter Sinn. Verkehrserziehung in (West-)Deutschland 1900-1992

Postkarte "Radfahrer! Auch draußen hintereinander fahren!" von 1927Der zu Beginn des 20. Jahrhundert begonnene Siegeszug des Automobils hatte das soziale Gefüge im Straßenraum verändert und führte zu Verteilungskämpfen, Statuskonflikten – und neuartigen Risiken. Der Unfall geriet rasch zur kontinuierlichen Herausforderung, gleichsam zur Achillesferse eines ausgreifenden und sich verdichtenden Systems individueller Mobilität. Vor dem Hintergrund der sich beschleunigenden Motorisierung galt es die von der Komplexität und den Interdependenzen des Straßenverkehrs produzierten Unsicherheiten zu reduzieren. Dies erforderte nicht nur die Einführung von Regeln, sondern zugleich deren Einhaltung durch diejenigen, die sich auf den Straßen bewegten. Deshalb wurden schon früh Rufe nach einer Verkehrserziehung laut, wie sich dann im Laufe der 1920er Jahre institutionalisierte. Ob vom Verkehrskasper über den schulischen Verkehrsunterricht und die Fahrschule bis hin zu Autobahnplakaten und anderen Elementen öffentlicher Kampagnen: Bis heute begleiten Maßnahmen der Verkehrserziehung die Menschen von der Wiege bis zur Bahre.

Unter Verkehrserziehung werden all jene Bemühungen verstanden, ein spezifisch angepasstes, „verkehrsgerechtes“ Verhalten, das im Idealfall routinisiert und gleichsam intuitiv abgerufen werden kann im Unterbewussten der Gesellschaft zu verankern. Untersucht werden zum einen Prozesse der Professionalisierung der Verkehrserziehung durch den Auf- und Ausbau von Fahrschulen und spezialisierten Lehrgängen, (vor-)schulische Verkehrspädagogik, die Ausbildung der Ausbilder (Zugänge zum Fahrlehrerberuf, Polizeiausbildung) bis hin zu breit angelegten Sicherheitskampagnen („Komm gut heim“) und massenmedialen Formaten (Verkehrserziehungsfilme, Der 7. Sinn). Zum anderen geht es um Prozesse der Akkumulation und Weitergabe von Expertise und „sicherheitsrelevanten“ Wissensbeständen in ihrer Vielfalt und Konkurrenz zueinander, die auch in einer teils sich ergänzenden, teils konfligierenden Lobbyarbeit sowie in unterschiedlichen Konzepten der „Sicherheitsdidaktik“ bestand.

Plakette mit der Aufschrift "Hör auf deine Frau, fahr vorsichtig" auf dem Heck eines LKWDie Konzepte und Strategien der Verkehrserziehung unterlagen historischen Wandlungen und standen im Wechselverhältnis mit den sich ändernden Verkehrsverhältnissen, technologischen Innovationen und wissenschaftlichen Entwicklungen. Gleichzeitig war Verkehrserziehung von den politischen Rahmenbedingungen und weltanschaulich grundierten Ordnungsvorstellungen und Menschenbilder verschiedener Regime bestimmt. Der Straßenverkehr im Jahrhundert der (Massen-)Motorisierung lässt sich daher als wichtige soziale Arena und Feld der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung fassen. Im Zusammenhang mit der Verkehrssicherheit fanden vielfältige Aushandlungen statt, etwa über die Relationen von Sicherheit und Risiko, von Mensch und Technik, von Regulierung und Selbstorganisation oder auch über Geschlecht, Familie und Religion. Eine Geschichte der Verkehrserziehung leistet demnach einen Beitrag zu einer Gesellschaftsgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, indem sie gesellschaftliche Leitbilder wie Gemeinschaft, Demokratie, Selbstverantwortung und Freiheit thematisiert.