Unfallprävention durch Automatismen?

Cover Vorsorgen in der Moderne - (c) DeGruyter OldenbourgIn den 1960er Jahren fand ein Paradigmenwechsel in der Verkehrserziehung statt, der eng verbunden war mit einer Diskussion über die Bedeutung vorbewussten Verhaltens für die Verkehrssicherheit ein. Ließen sich Unfälle wirksamer verhüten, fragten sich die Experten, wenn man die Verkehrserziehung auf Automatismen abstellte? Wenn man die Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer nunmehr erfolgreich motivierte, richtiges, der Situation angemessenes Verhalten zu verinnerlichen und abrufbar zu halten? Dieser Debatte geht ein Beitrag von mir nach, der in einem von Nicolai Hannig und Malte Thießen herausgegebenen Sammelband enthalten ist, und ordnet sie in die Geschichte der Prävention in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein. Bereits Ende letzten Jahres ist Vorsorgen in der Moderne. Akteure, Räume und Praktiken in der Schriftenreihe der Viertelsjahrshefte für Zeitgeschichte bei DeGruyter Oldenbourg erschienen. Die Bandbreite der Beiträge reichen vom Strafvollzug über Ernährung bis hin zur Verweigerung von Vorsorge. Mittlerweile ist das Buch auch sehr gut besprochen worden, etwa in einer Rezension auf H-Soz-Kult.

Automatismen als Unfallprävention? Verkehrssicherheit in der frühen Bundesrepublik im Zeichen von Selbstkontrolle und Resilienz, in: Nicolai Hannig / Malte Thießen (Hg.): Vorsorgen in der Moderne. Akteure, Räume und Praktiken (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 115), München 2017, S.147-167.

Verkehrserziehung in der frühen Bundesrepublik und das Konzept der Selbstkontrolle

Cover Historical Social Research 41, H. 1 - (c) Gesis

Vor einigen Wochen ist ein Themenheft von Historical Social Research zu „Risk as an Analytical Category“ erschienen. Die von Peter Itzen und Simone M. Müller (beide Freiburg) herausgegebene Ausgabe enthält sehr lesenswerte Artikel, u.a. von Sebastian Haus zu den Risikostrategien der westdeutschen Schwulenszene gegenüber HIV/AIDS oder von Malte Thießen zur Geschichte der Auseinandersetzung mit Impfrisiken. Ich bin mit dem Beitrag „Road Safety and Traffic Education in Post-War Germany“ vertreten, der einem Paradigmenwechsel im Umgang der bundesdeutschen Verkehrserziehung mit Unfallrisiken in den 1950er bis 1970er Jahren nachspürt:

In den 1950er Jahren sah sich die Verkehrspolitik der Bundesrepublik Deutschland mit einer Situation konfrontiert, die zeitgenössisch als „Verkehrskrise“ bezeichnet wurde. In nur wenigen Jahren nahm die Anzahl der Kraftfahrzeuge auf westdeutschen Straßen rapide zu, und dies galt auch für die Zahl der Unfälle und Unfalltoten. Entsprechend wurden die Bemühungen auf dem Gebiet der Verkehrserziehung stark ausgeweitet. Der Artikel untersucht anhand öffentlicher Kampagnen und Expertendiskurse die Karriere des Konzepts von Selbstkontrolle unter Verkehrssicherheitsexperten und seinen Beitrag zu einem Paradigmenwechsel in der westdeutschen Verkehrserziehung. Im Laufe der drei Dekaden von den 1950er bis 1970er Jahren verschob sich die Perspektive von externer Regulierung durch disziplinäre Maßnahmen und Appelle an die Vernunft hin zu der Internalisierung adäquaten Verhaltens im Straßenverkehr und Kompetenz hinterm Steuer. Die Verkehrserziehung versuchte nun vielmehr, die Verkehrsteilnehmer zur Selbstregulierung zu bewegen und ihre Fähigkeit zu verbessern, sich an Verkehrssituationen anzupassen. Ziel war die Etablierung eines spezialisierten „Siebten Sinns“ als Kernelement traditionellen Risikoverhaltens. Selbstkontrolle, so wie das Konzept in Kampagnen und anderen Verkehrssicherheitsmaßnahmen umgesetzt wurde, arbeitete mit erwünschten Vorstellungen soziopolitischer Ordnung und vom gesellschaftlichen Zusammenleben. Dies waren insbesondere traditionelle Familien- und Geschlechterrollen, christliche Werte und demokratische Freiheit.

Der Beitrag kann als PDF-Datei heruntergeladen werden.

Teaching Self-Control. Road Safety and Traffic Education in Post-War Germany, in: Historical Social Research 41 (2016), H. 1, S. 135-153.

Projektionen der Moral. Filmskandale in der Weimarer Republik

Kai Nowak: Projektionen der Moral. Filmskandale in der Weimarer RepublikGut zwei Jahre nach der Abgabe der Dissertation liegt seit Herbst 2015 endlich das Buch über Filmskandale im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts vor und sei all jenen ans Herz gelegt, die sich für die Geschichte der Weimarer Republik, für Medien- und Filmgeschichte und die politische Kultur der bewegten Jahre von 1918 bis 1933 interessieren. Aus der Verlagsankündigung: „Der Film war von Beginn an gleichermaßen Faszination wie Provokation. Er lotete die Grenzen des Zeigbaren aus, dehnte sie, überschritt sie. Galt das Kino in seinen Anfängen noch selbst als skandalös, wurden zunehmend einzelne Filme zum Skandalon erhoben. Kai Nowak untersucht erstmals systematisch Filmskandale im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts unter Rückgriff auf eine breite Presse-, Film- und Aktenüberlieferung. Er zeigt, inwieweit Filmskandale als Seismographen des gesellschaftlichen Werte- und Normenwandels in der Moderne fungierten und die Deutung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Weimarer Republik ausfochten. Im Konflikt über Fragen wie den angemessenen Umgang mit den Grenzbereichen des Lebens, Vorstellungen staatlicher Ordnung, nationaler und regionaler Identität oder der Geschlechterordnung verhandelten Filmskandale nichts weniger als die politisch-moralischen Grundlagen des Gemeinwesens. Denn Filmskandale waren, so die These des Buches, Projektionen der Moral.” Der 528 Seiten starke Band enthält 20 Abbildungen und ist auch als E-Book erhältlich. Über die Deutsche Nationalbibliothek ist ein Blick ins Inhaltsverzeichnis möglich.

Projektionen der Moral. Filmskandale in der Weimarer Republik (= Medien und Gesellschaftswandel im 20. Jahrhundert 5), Göttingen: Wallstein 2015.

€ 44,00 (D) / € 45,30 (A), 528 S., 20 Abb., Schutzumschlag, ISBN: 978-3-8353-1703-1

Der Schock der Authentizität

WerkstattGeschichte Nr. 69/2015 - Cover (c) Klartext VerlagGerade frisch erschienen: die neue Ausgabe von WerkstattGeschichte mit dem Schwerpunkt „anti/koloniale filme“. Darin ist ein Aufsatz von mir enthalten, der sich der Rezeption des italienischen Films „Africa Addio“ (1966) widmet. Dieses „shockumentary“ setzt sich – aus kolonialer Perspektive – mit dem Prozess der Dekolonisation auseinander und löste im Sommer 1966 einen der größeren, gleichwohl von der Forschung bislang nur wenig beachteten Filmskandale der Bundesrepublik aus. Dieser wurde schließlich von der sich formierenden Studentenbewegung radikalisiert. Der Beitrag zeigt, wie der Fall durch die schockauslösende Qualität filmischer Authentizität und deren skandalösem Potential prominent und vernehmbar eine Stellvertreterdebatte über das Verhältnis Deutschlands und Europas zum postkolonialen Afrika anstieß. Der Skandal als Modus der Auseinandersetzung führte jedoch dazu, dass diese Frage rasch aus dem Fokus verschwand. Als Studenten der Freien Universität Berlin – in Verbindung mit afrikanischen Kommilitonen – in einem Berliner Kino randalierten und auf dem Kurfürstendamm lautstark gegen „Africa Addio“ demonstrierten,  wurde der ursprüngliche Auslöser im Rahmen eines Skandals zweiter Ordnung bald vollständig überlagert von Empörung über die Aktionsformen der Protestierer und der Frage ihrer Legitimität. Die Studenten wiederum transponierten den Fall „Africa Addio“ in einen Skandal um den bundesdeutschen Umgang mit der NS-Vergangenheit. Der Versuch, einen Zusammenhang von deutscher faschistischer Tradition und dem Schicksal des afrikanischen Kontinents zu entlarven, endete letztlich in einer allein auf Deutschland fixierten Auseinandersetzung. Den Protagonisten des Skandals lagen ihre eigene Gesellschaft, ihre politische Kultur und die Behauptung bzw. Erlangung von Deutungshoheit letztlich näher als die Sache des fernen Afrika.

Die Ausgabe von WerkstattGeschichte enthält eine Auswahl von Vorträgen, die auf einer im Dezember 2013 in Gießen veranstalteten Tagung zum (anti-)kolonialen Film gehalten wurden. Das Heft ist über den Buchhandel zu beziehen oder direkt beim Klartext Verlag.

Der Schock der Authentizität. Der Filmskandal um Africa Addio (1966) und antikolonialer Protest in der Bundesrepublik, in: WerkstattGeschichte 69 (2015), S. 35-51.

Mütterlichkeit und Mutterschaft

Ariadne Nr. 62 - Cover (c) Stiftung Archiv der deutschen FrauenbewegungBereits vor einiger Zeit ist ein kurzer Aufsatz aus dem Dunstkreis meines Dissertationsprojekts in der Zeitschrift Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte erschienen, der sich mit dem Filmskandal um die Schweizer Produktion „Frauennot-Frauenglück“  von 1929/30 beschäftigt. Der semi-dokumentarische Film, entstanden unter Beteiligung des sowjetischen Avantgarde-Regisseurs Sergej Eisenstein, thematisiert die Problematik illegaler Abtreibungen und stellt sie den hygienischen Bedingungen in einer modernen Frauenklinik gegenüber. Für moralische Empörung, vor allem in kirchlichen Kreisen, sorgten dokumentarische Aufnahmen einer Kaiserschnittgeburt: Der Film offenbare den heiligen Moment der Geburt einem breiten Publikum  und entweihe so die Mutterschaft, wie der gängigste Vorwurf lautete. Im Filmskandal um „Frauennot-Frauenglück“ vermengten sich exemplarisch Auseinandersetzungen um Sicht- bzw. Zeigbarkeiten und die Geschlechterordnung. Dabei wird auch die Bedeutung eines Konzepts von Mutterschaft für die Geschlechterordnung deutlich, das in den Augen der Skandalisierer und Skandalisierinnen vor Angriffen des Films verteidigt werden musste. Zugleich ermöglicht dieser Filmskandal einen Blick auf Diskurszugänge, also Möglichkeiten des Sprechens und Gehörtwerdens, von Frauen zur Zeit der Weimarer Republik.

Mütterlichkeit und Mutterschaft. Der Filmskandal um „Frauennot-Frauenglück“ (1929/30), in: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte 27 (2012), H. 62, S. 32-40.

Mythos, Film, Skandal

Cover: Filmblatt Nr. 43/2010Noch ein Nachtrag: Im Filmblatt (Nr. 43) erschien ein Beitrag von mir über einen Filmskandal, mit dem Anfang 1930 in Bayern auf eine vermeintliche Herausforderung regionaler geschichtlicher Identität reagiert wurde.

Wilhelm Dieterle stellt in seiner Filmbiografie „Ludwig der Zweite, König von Bayern“ von 1929 den „Märchenkönig“ als einen von seinem Innersten getriebenen Menschen vor, der an den Zwängen des Amtes und einem intriganten Umfeld scheiterte. Fast 50 Jahre nach dem mysteriösen Tod des Monarchen berührte das Thema immer noch tief das bayerische Selbstverständnis. Rechte Verbände und die bayerische Regierung liefen Sturm gegen den Film, obwohl ihn noch niemand gesehen hatte. Der Filmskandal verschärfte sich, als die Münchener Polizei trotz reichsweiter Zulassung ein örtliches Verbot aussprach. Der Fall schildert eindrücklich, wie sich regionale Identitäten ihrer selbst versichern und allen vermeintlichen Gefährdungen durch einen Film zum Trotz gestärkt aus dem Konflikt hervorgehen.

Mythos, Film, Skandal. Wilhelm Dieterles Filmbiografie „Ludwig der Zweite“ (1929) als Streitfall regionaler Identitäten, in: Filmblatt 17 (2010), H. 43, S. 45-64.

Kinemaklasmus

Cover: Medialisierte EreignisseDieser Neologismus bezeichnet – in Anlehnung an den Begriff „Ikonoklasmus“ – die spezifischen Formen von Protestartikulation im Kino. Welche Spuren hinterlassen Angriffe auf Filme? Welche Grenzen sind solchen Protesten durch das Kino als sozialem Ort und mediales Dispositiv gesetzt? Diesen Fragen geht mein Beitrag mit dem Titel Kinemaklasmus – Protestartikulation im Kino im neu erschienenen, von Frank Bösch und Patrick Schmidt herausgegebenen Sammelband Medialisierte Ereignisse. Performanz, Inszenierung und Medien seit dem 18. Jahrhundert (Campus Verlag, Frankfurt am Main) nach und unternimmt den Versuch, anhand der Kinoproteste der 1920er und frühen 1930er Jahre und in Abgrenzung zu Theater- und Opernskandalen einen systematischen Aufriss von Kinoprotesten als Praxis symbolischer Kommunikation zu leisten.

Der Sammelband geht zurück auf eine im Juni 2008 vom Gießener Graduiertenkolleg Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart veranstaltete Tagung und nimmt die Wechselverhältnisse von Medialität und körperlicher Performanz in historischer Perspektive in den Blick. Der Band enthält zahlreiche weitere lesenswerte Beiträge, etwa von Susann Trabert über Ballonaufstiege im späten 18. Jahrhunder als Performances, von Kathrin Fahlenbrach über die medialen Körperinszenierungen der 68er-Bewegung oder René Schlott zur Medialisierung von Ritualen anhand des Todes von Papst Pius XII., um nur eine kleine Auswahl zu nennen.

Kinemaklasmus. Protestartikulation im Kino, in: Frank Bösch / Patrick Schmidt (Hg.): Medialisierte Ereignisse. Performanz, Inszenierung und Medien seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2010, S. 179-197.

Filmskandal und gesellschaftlicher Wandel

Vom 17. bis 19. Februar 2010 fand in Gießen die Tagung Medien.Kultur.Wandel statt, organisiert von der Research Area „Culture and Performativity“ des Graduate Centre for the Study of Culture statt. Das Panel „Transgressionen“ versammelte u.a. Beiträge über Grenzüberschreitungen im Horrorfilm und Körperverletzungen in der Performancekunst – und über Filmskandale. Mein Paper mit dem Titel „Skandalgemeinschaften“ fragte am Beispiel von Ludwig der Zweite, König von Bayern (D 1929) nach der vergemeinschaftenden Wirkung von Skandalen vor dem Hintergrund der Erfahrung gesellschaftlichen Wandels.

Die Politik des Filmskandals

Soeben ist der von Hans-Peter Becht, Carsten Kretschmann und Wolfram Pyta herausgegebene Tagungsband mit dem Titel Politik, Kommunikation und Kulturin der Weimarer Republik erschienen. Darin enthalten mein Beitrag Die Politik des Filmskandals. Die kommunikativen Folgen des Skandals um den Film „Im Westen nichts Neues“ (USA 1930), der untersucht, wie der bekannteste Filmskandal der Weimarer Republik in anschließenden Filmskandalen und Debatten verwendet wird und die dort verhandelten Filme einer politischen Perspektive unterstellt.

Die Politik des Filmskandals. Die kommunikativen Folgen des Skandals um den Film „Im Westen nichts Neues“ (USA 1930), in: Hans-Peter Becht / Carsten Kretschmann / Wolfram Pyta (Hg.): Politik, Kommunikation und Kultur in der Weimarer Republik, Heidelberg 2009, S. 161-178.

Kulturgeschichtetag in der Kulturhauptstadt

Vom 12. bis 15. September fand in Linz, Kulturhauptstadt Europas 2009, an der dortigen Johannes Kepler-Universität der bereits zweite Kulturgeschichtetag statt. Ich war mit einem Vortrag im von Frank Bösch eingereichten und geleiteten Panel „Normen, Politik und Skandale im 20. Jahrhundert“ vertreten.

Mein Beitrag sollte am Fallbeispiel des Skandals um den Wilhelm Dieterle-Film Ludwig der Zweite, König von Bayern (D 1929) zeigen, wie Medien einen Skandal als einen solchen konstituieren, obwohl der betreffende Film fast gänzlich unbekannt ist. Der Skandal funktionierte dennoch, da in ihm moralische Empörung über Sachverhalte geäußert wurde, die unabhängig vom Film bestanden und vielmehr auf ihn projiziert wurden. So verhandelte dieser Skandal letztlich konkurrierende politische Deutungen und leistete einen Beitrag zur Bestätigungund Festigung regionaler Identitäten.

Weitere Vortragende waren Norman Domeier („Umkämpfte Männlichkeit. Homosexualität und Politik im späten Kaiserreich“) und Nils Kessel (Tödliche Grenzziehungen. Medizinskandale nach 1945“).